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Erfüllung

Der leise Wellenschlag hatte ihn in den Schlaf gleiten lassen. Der Rhythmus war durch den Schlaf; war durch die Träume gewandert, hatte sich über sie gelegt, hatte sie durchdrungen, hatte sie bestimmend geformt. Nun holte ihn die Gleichmäßigkeit wieder aus dem Schlaf heraus. Wieder war es dämmrig; nun das Grauen des frühen Morgens. Wieder und noch immer der Klang der anrollenden und sich entfernenden Wellen. Alles schien gleich. Nur einen Augenblick schien sich seine Aufmerksamkeit abgewendet zu haben. Keine Veränderung zeigte sich und doch war die Zeit zerflossen, hatte sich die Erde gedreht, hatten fremde Menschen gelebt. Erfrischt und unendlich wohl und kraftvoll fühlte er sich. Es war schön in dieser kleinen Bucht. So ruhig, so verlassen von allen anderen Menschen. Aberglaube hatte die Luft geklärt, hatte den Raum frei gemacht, hatte den Frieden der Leere geschenkt. Die Alten und die Weiber erzählten den Kindern sonderbare Geschichten von Nixen, von den Muyranen genannten Kiemen-Menschen, von anderen Meeresunwesen und Halbwesen, von Ungeheuern. Wilde Phantasien, berichtet in alten Zeiten von jenen, die gerade noch davongekommen waren. Kleine Gruseleien, die sich in den Köpfen der Kinder einnisten, die sich dort ausdehnen und neue Schattierungen, neue Ausschmückungen gewinnen. Und diese Geschichten bleiben in den Köpfen, bleiben dort bis der Tod sich seine Beute holt, bis diese verängstigten Menschen heimgeholt werden. Alles Schabernack. Er glaubte nur an das, was er sah. Es mochte viele Dinge und Wesen und Menschen unter der Sonne geben. Doch einfach so alles glauben?

In der Ferne erhob sich ein Zipfel der Sonne. Noch stark verformt und verschwommen durch die Wellen. Mehr und mehr stemmte sie sich empor. Die Luft war noch von jenem milchigen Blau, das so unwirklich wirkt, das so leer und ewig wirkt. Ein Blau, das sich selbst genügt; das bereit scheint, auf die Menschheit, auf alle Betrachter, auf alle Wesen, auf alle Existenz an sich zu verzichten. Ein Blau, das sich darin gefällt, allein zu sein. Ein Blau, das verachtend herabstrahlt, weil es die ewige Ruhe und Beschlossenheit in sich selbst gefunden hat.

Die Wellen krochen an den Strand, strichen über den Sand und zogen sich zurück, um neuen Wellen Platz zu machen. Er zog sich aus und trat ins Wasser.

Es war nicht kalt, sondern angenehm warm. Wenige Schwimmzüge trugen ihn ins tiefe Wasser. Er legt sich auf den Rücken und gab sich dem Wogen hin. Feine Wolkenstreifen hingen im Himmel, ganz dünn, ganz zart. Fäden von reinem Weiß.

Ihre grünen Augen lachten ihn an. Er war zwar überrascht, jedoch keine Abwehr, kein Zurückschrecken. Ein Gesicht voll der Freude und voll der Unschuldigkeit. Seine Schwimmbewegungen hielten ihn über Wasser. Sie bedeutete ihm zu schweigen, legte ihre Arme um seinen Hals. Ihre Lippen waren kühl und salzig. Rasch und gierig eilte ihre Zunge über seine Zähne.

Auch er umarmte sie und dennoch blieben beide im Wasser stehen. Etwa zehn Fuß tief mußte Wasser unter ihnen sein. Er schwamm nicht und auch sie nicht und dennoch standen sie. Ihre Beine berührten sich. beide bewegungslos. Er tastete an ihrem Arm entlang, erreichte ihre Hand und spürte zwischen den Fingern die Schwimmhäute. Sie war eine Muyrana, ein Kiemen-Mensch, ein Halbwesen; weder Fisch noch Mensch, sowohl Fisch als auch Mensch. Ihr Fischschwanz trug sie. Ein Märchen hatte Gestalt angenommen. Doch er spürte keine Angst. Ruhe erfüllte ihn. Ruhe und Genuß über den Augenblick. Rein und klar lachten ihn ihre Augen an. Keine Arglist, keine finsteren Gedanken; pures Sinnenfühlen war in ihr. Ein Körper, der unberührt war von den Irrungen und Gefahren des Geistes, des zernagenden Verstandes, der unterkühlten Ratio.

Sie war schön und genoß es, schön zu sein. Er genoß die Zeit; genoß es, in ihren Armen zu sein. Er genoß es und er küßte sie. Ihr Hände fühlten über seine Wirbelsäule, fuhren dann an den Seiten hoch, spielten in den Achselhöhlen. Sie zog ihn an sich, drückte ihn, klammerte sich an in. Ihr Mund liebkoste sein Gesicht. Ihrer beiden Wangen streichelten sich.

Schmetterlingen gleich zuckten ihre Wimpern über seine Haut. Das Gesicht, der Hals, die Schultern. Sie tauchte, hielt ihn mit den Armen, während ihre Lippen seinem Körper huldigten. Durch das strömende Wasser wurden ihre Bewegungen, ihre Berührungen, ihre Küsse verstärk und in verschwommene Leichtigkeit verrückt. Sie tauchte auf und küßte ihn auf den Mund. Ihre Haut war fest und kühl. Das Haar lang und schön, Seepflanzen waren hineingeflochten. Voll und zart standen ihre Brüste ab. In seinem Munde verhärteten sich die Knospen. Kleine Bisse ließen sie dezent erschauern. Er konnte nur kurz unter Wasser bleiben. Den Fischschwanz wollte er sich nicht besehen.

Das Verlangen wuchs. Sehnlich begehrte er sie. Wilder und wilder wurden ihrer beiden Bewegungen. Das Wasser kreischte und tobte um sie her. Der Himmel schwarz verhangen; kalt die Fluten; die Sonne bereits in ihrem Untergang. Er sah nichts von alle dem, nichts um ihn herum. Nichts war außer ihm und ihr für ihn. Nichts wollte er als sie lieben, als Teil von ihr werden, als mit ihr verschmelzen, als in ihr die Lust, in ihr das Glück erfahren. Er küßte sie und drang in sie ein. Fest umschloß sie ihn. Warm und weich und glatt und von unendlicher Schönheit, Vollkommenheit und Glückseligkeit. Ihr Gesicht wurde hart und fern. Sie ließ sich treiben in den Wassern. Die Wellen rollten stärker heran. Zwei Wellen trugen sie hinan, eine dritte überrollte sie, ließ ihn nach Luft schnappen. Es war nicht weit zum Ufer, kaum ein Augenblick hätte ihn dorthin gebracht. Er wollte das Glück auskosten, wollte sie lieben; wahre Liebe geben und wahre Liebe empfangen. Er zog, preßte sie an sich, küßte fiebrig ihr Gesicht. Er stieß in sie vor, glitt ein wenig zurück, ließ das Becken kreisen, stieß und drückte sie an seinen Körper. Tiefer und tiefer wollte er in sie eindringen; wollte sich in ihr verlieren, in sie hineinstürzen; ewiger Sturz in das Nichts.

Höher schlugen die Wellen. Schon jede zweite begrub das Paar unter der Wasserflut. Tiefer und tiefer. Schneller und hastiger. Angespannter und verzweifelter. Gieriger und gewaltiger. Nichts existiert, nichts besteht, nichts ist, nur Schmerz, Verlangen, maßloses Begehren. Wunsch nach Erfüllung, nach dem Ende und Wunsch nach dem Andauern, nach dem Nie-versiegen, nach Unendlichkeit. Brutaler und hastiger bewegte er sich. Die Luft qualvoll anhaltend, die Lungen bis zum Zerreißen gespannt. Hastiges Einatmen; bald zum rechten, bald zum falschen Augenblick; dann hustend das Wasser erbrechend. Nah war das Ufer und mit Macht tobten die Wellen. Er mußte, mußte das Glück erleben; mußte das absolute Vergehen erhaschen. Die Wogen schlugen in seinem Rhythmus an die beiden Körper; hielten ihn fest und schwangen mit ihm, seine Bewegungen in das Spiel der Weltmeere einbettend.

Dann Stille; unendlicher Schmerz; Augenblick, in dem die Zeit, in dem der Raum, in dem die Ewigkeit anhalten. Augenblick, wo nur noch Körper, wo nur noch Sinne, wo nur noch der Augenblick ist. Glück, Freude, Erfüllung, Verschmelzen, Schweben.

Die Welle überrollte ihn, drückte ihn unter Wasser. Die Lungen füllten sich mit Wasser. Die Wucht riß ihn fort. Der Geist noch nicht wieder mit dem Körper vereint. In der Glückseligkeit zu kraftlos und zu entfernt. Allein und befangen in der Erfüllung, im Aufgehen im Augenblick der Einzigartigkeit. Kurz trugen ihn die Fluten auf den weißen Kämmen der Gewalt. Sie spielten ihr schnell lebloses Spiel. Ein Spiel mit einem leichten Ball, der auf den Meeresgrund glitt. Hin und her wiegte sich sein Körper im Rhythmus des Wellenschlags.

Aasvögel kreisten über einer Stelle am Strand. Sie flogen hernieder, andere erhoben sich; stetiger Wechsel. Ein Leichnam, den sie mit ihren scharfen Schnäbeln zerrissen, dem sie Fleichbrocken entnahmen, den sie Stück um Stück aufaßen. Die Knochen waren allesamt zerschlagen. Sein Leib eine formlose Masse, von den Vögel kaum mehr entstellt. Nur das Gesicht war unberührt geblieben.

Segment: Yhllgord - Region: Delfinsee - Zeit: 416 n.P. - Myra-Fundort: Yh28/16-18

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