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Passage[]

Selart wandte sich um und ließ seinen Blick ein letztes Mal über die Siedlung schweifen, an deren Rand seine Familie stand und ihm hinterherwinkte; dann setzte er entschlossen den nackten Fuß auf den Pfad, der in den Wald hineinführte. Mit jedem Schritt, den er tat, schien die Last auf seinen Schultern leichter zu werden; verschwanden die Schmerzen im weichen Nebel, der den hinter ihm liegenden Weg zunehmend dichter verhüllte. Hingegen wurde der Pfad vor ihm umso deutlicher.

Er lauschte auf die unendliche Vielfalt der Geräusche, die den Wald erfüllte: da Zwitschern der Vögel, das Rascheln eines kleinen Tieres im Unterholz, das Plätschern eines nahen Baches Der Duft der vom Tau feuchten Erde stieg ihm in die Nase, berauschend wie Gransat- Brannt. Leichtfüßig wanderte er den Pfad entlang, schaute hierhin und dorthin, ließ die Eindrücke auf sich wirken, die der Wald ihm bot. Hinter ihm wurde der Nebel dichter und schwerer; voraus erblickte er in einiger Ferne das Ende des Pfades und die Lichtung, die sein Ziel war.

Während er wanderte, dachte Selart über das Leben nach, das er hinter sich ließ. Es fiel ihm nicht leicht, sich von ihnen allen abzuwenden. Genara hatte geweint, als er ihr seinen Entschluß mitgeteilt hatte, aber sie hatte ihn verstanden. Sie würde nun ohne ihn die zahlreichen Aufgaben bewältigen müssen. Die Leitung der Tischlerei, die ihnen den Lebensunterhalt sicherte, hatte sie ohnehin schon seit längerem übernommen, seit geraumer Zeit waren ihre Hände um vieles ruhiger als seine eigenen gewesen. Er hatte nicht viel mehr tun können, als in gelegentlichen Plaudereien die Stammkunden davon zu überzeugen, daß seine Gefährtin nun bessere Arbeit abzuliefern vermochte, als sie sie von ihm gewohnt waren. Die Kinder gingen ebenfalls ihrer eigenen Wege. Stramal hatte sich für eine Ausbildung zum Heiler entschieden und machte gute Fortschritte, wenn er auch noch nicht weit genug gewesen war, die Bitte seines Vaters um Passage selbst zu erfüllen; dafür hatte er seinen Lehrmeister hinzugezogen. Hiriala war schon jetzt, mit lediglich fünfzehn Ssakat, die begabteste Bardin der Siedlung - und eine ihrer schönsten Maiden obendrein. Die Burschen hingen verehrungsvoll an ihren Lippen, ob sie nun rezitierte, sang, oder gelegentliche Küsse verteilte.

Selart hatte seinen Teil dazu beigetragen, ihnen diese Wege zu ermöglichen. Seit ihrer frühesten Jugend hatte er seine Kinder immer wieder dazu ermutigt, ihre Wünsche zu formulieren und ihre Neigungen zu ergründen. Er hatte ihnen Yawannyes Lehren nahegebracht und ihnen diejenigen Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt, die sie zum Überleben benötigen würden. Er hatte ihnen Geschichten und Legenden erzählt, Tiere und Pflanzen gezeigt, Raum und Zeit und Freiheit gegeben, um zu werden, was sie werden wollten.

Freiheit, dachte Selart, das größte und wichtigste Geschenk, das Yawannye ihnen gemacht hatte. Die Freiheit, das eigene Leben so zu gestalten, wie man es für richtig hielt, solange es niemand anderem Schaden zu fügte. Er hatte überlegt, ob er dieses Gebot verletzte, wenn er die Passage ging. Brauchten sie ihn noch? Konnte er sie alleinlassen? Würde Yawannye es mißbilligen, wenn er seine Familie vor der Zeit hinter sich ließ?

Nein, war ihm klargeworden. Die Göttin würde es verstehen und billigen. Er hatte für seine Familie getan, was in seiner Macht stand, sie benötigten ihn nicht mehr. Natürlich bedauerten sie seinen Entschluß, natürlich würden sie ihn vermissen, aber er hatte sie nicht wirklich verletzt. Seine Entscheidung war recht gewesen, er hatte sich die Passage verdient. Der Nebel hinter ihm war inzwischen völlig undurchdringlich geworden; selbst, wenn er gewollt hätte, wäre ihm eine Umkehr jetzt nicht mehr möglich gewesen. Die Lichtung kam näher, schon meinte er, ein strahlend weißes Fell im Sonnenlicht erglänzen zu sehen. Leichten Schrittes ging er weiter. Eine Wurzel unter seinen Füßen ließ ihn kurz stolpern, doch der Schmerz in seinem Knöchel war mehr eine letzte Erinnerung an das, was er hinter sich ließ, als eine wirkliche Belastung.

Als der Wald vor ihm sich öffnete, begann Selart zu laufen. Die Passage näherte sich ihrem Ziel; er war nun begieriger denn je, sie baldmöglichst zu vollenden. Er betrat die Lichtung und erblickte das Einhorn, Yawannyes Botin, die ihn in Empfang zu nehmen erschienen war. Das prächtige Tier hob den Kopf wie zur Begrüßung; respektvoll näherte Selart sich mit nun wieder gemessenen Schritten. Seine Gewißheit hatte sich erfüllt: Yawannye verstand und akzeptierte seine Entscheidung. Er tat die letzten Schritte und verbeugte sich vor der Botin. Das Einhorn hielt still, während Selart sich auf seinen Rücken schwang und die zum ersten Mal seit Jahren nicht mehr zitternden Hände in seine Mähne krallte. Dann begann das Tier zu laufen, um seinen Reiter über den letzten Teil der Passage zu tragen.

Der Druide erhob sich und stellte den Becher zur Seite. „Er hat die Passage vollzogen. Yawannye wird ihn in Empfang nehmen.“

Genara beugte sich über das Lager und drückte einen letzten Kuß auf die Stirn ihres toten Gefährten. Ihre Kinder taten es ihr gleich. Stramal schluchzte auf, und sie legte ihm den Arm um die Schulter. „Er konnte uns die Trauer nicht ersparen, Stram. Wir hätten sie auch verspürt, wenn er noch länger ausgehalten hätte. Es ist besser, daß er die Passage gegangen ist, solange er sie noch selbst gehen konnte.“

„Das weiß ich. Dennoch hätte ich mir gewünscht, er wäre noch eine Weile bei uns geblieben.“

Seine Schwester blickte von dem Rindenblatt auf, über das sie gebeugt saß. „Es wäre ungerecht von uns gewesen, von ihm eine Verlängerung seiner Schmerzen zu fordern, um unsere eigene Trauer hinauszuschieben, Stram. Wir sollten ihm dankbar sein, daß er die Passage nicht schon viel früher gegangen ist. Du als angehender Druide müßtest dir doch am ehesten ein Bild davon machen können, wie sehr er gelitten hat.“

Stramal schluckte, dann nickte er und trat mit dem leeren Sudbecher in der Hand zu seinem Lehrmeister. „Das nächste Mal, wenn jemand in der Siedlung um die Passage ersucht, möchte ich derjenige sein, der den Sud verabreicht.“ Der ältere Druide nickte. „Das wirst du, Stramal. Doch nun bereite alles für das Begräbnis deines Vaters vor.“

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