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Die Pestbriefe von Denalgê und Tektoloi[]

Im Jahre 647 v.P. schleppten Händler aus einer fernen Stadt, deren Name heute vergessen ist, die Pest nach Denalgê ein. Das Kaiserreich hatte eine solche Krankheit noch nie gesehen, und so kannte man keinerlei Mittel, die Krankheit zu bekämpfen, geschweige denn sie zu heilen. Ungehindert breitete sie sich in Windeseile im gesamten Kaiserreich aus. Innerhalb weniger Monde verstarben Hundertausende. Die Pest machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, Edlen und gewöhnlichen Bürgern – alle starben sie wie die Fliegen, und als das Wüten der Seuche endlich abebbte, war ihr mehr als ein Drittel der damaligen denalgischen Bevölkerung zum Opfer gefallen. Durch die schiere Zahl der Toten, aber auch dadurch, daß zahllose bedeutende Personen plötzlich verstorben waren, ohne ihr Wissen weitergeben zu können, wurde das Kaiserreich in seiner Entwicklung um mehr als zweihundert Jahre zurückgeworfen.

Um zu verhindern, daß eine derartige Katastrophe erneut über das Land hereinfallen konnte, widmete sich man in den Jahrzehnten nach der Pestepidemie intensiv der Seuche. Dabei fanden die Priesterschaften des Thalis, Pollathan und Generian in Zusammenarbeit Mittel und Wege, die Krankheit in ihrem frühen Stadium zu heilen. Begnadete heilkundige Priester können sogar Erkrankte in späteren Stadien der Seuche heilen, wobei diese Fähigkeit vor allem bei Thalis-Priesterinnen auftritt. Bedauerlicherweise ist die Heilung sehr zeitaufwendig und kraftraubend, so daß ein einzelner Priester nur sehr wenige von der Seuche Befallene auf einmal behandeln kann. Beim Ausbruch der Seuche kann so zwar das Leben der wichtigsten Persönlichkeiten gerettet werden. Da sich die Pest jedoch so schnell ausbreitet und so viele Personen auf einmal befällt, kann das Massensterben im Fall des Ausbruchs der Seuche nicht mehr verhindert werden. Man beschloß folglich, daß die beste Methode, die Pest (und andere Seuchen) zu bekämpfen, ist, sie gar nicht erst ausbrechen zu lassen. Infolge dieser Erkenntnisse empfahlen die Priesterschaften der drei erwähnten Gottheiten unter anderem, sich mindestens einmal im Mond zu waschen, in Städten eine Kanalisation und öffentliche Toiletten einzuführen sowie Rattenfänger einzustellen.

Weiterhin führte der Kaiser von Denalgê im „Erlaß zur Bekämpfung der Pest und anderer Seuchen“ aus dem Jahre 597 v.P. die „Phà-sâns“ („Pestbriefe“, wörtlich: „pestfrei“) ein: Von nun an wurde in jeder Stadt, mit der Denalgê Handel trieb, nahe dem Marktplatz ein „Phàguiérato da Imperôn n'Denalgê“ („Pestamt des Kaisers von Denalgê“) eingerichtet. In denalgischen Städten befand sich an jedem Stadttor ein Phàguiérato. In diesem Haus lebte ein Beamter der kaiserlichen Verwaltung, der „Phàguiéro“ („Pestbeamter“). Wenn ein Händler (oder eine andere Person) nun gedachte, in eine denalgische Stadt zu reisen, mußte er sich vom örtlichen Phàguiéro einen Pestbrief ausstellen lassen. In diesem Dokument erklärte der Phàguiéro, ob die Stadt von einer Seuche befallen oder seuchenfrei war. Der Pestbrief war nur gültig, wenn er mit dem kaiserlichen Siegel und der Unterschrift versehen war. Reiste man durch weitere Städte, setzten die jeweiligen Phàguiéri ihre Siegel und Unterschrift unter die ihrer Kollegen, wenn ihre Städte seuchenfrei waren. Dabei gab es für jede Stadt ein eigenes Siegel, in dem neben dem Symbol für die denalgische Krone ein Symbol für die entsprechende Stadt enthalten war. Um die Treue der Phàguiéri zum Kaiserreich zu sichern, wurden sie alle sieben Jahre ausgetauscht, und die nach Denalgê zurückgekehrten Phàguiéri wurden reich entlohnt. Überdies hatte jeder zurückgekehrte Phàguiéro das von ihm benutzte Siegel zurückzubringen, damit es vernichtet werden konnte. Damit verlor auch das entsprechende Siegel seine Gültigkeit. Der Ersatzmann erhielt ein eigenes Siegel, das anders war, als das vorher für die entsprechende Stadt gültige. Sollte ein Siegel aus irgendeinem Grund nicht zurückgebracht werden, wurde die entsprechende Stadt sofort automatisch für seuchenbefallen erklärt, bis ein neuer denalgischer Phàguiéro mit einem neuen Siegel in ihr eingetroffen war. Für manche Stadt konnte dies sehr ärgerlich sein, insbesondere wenn die Distanz zu Denalgê sehr groß war. Um zu verhindern, daß ein Phàguiéro flieht und den Seuchenausbruch verschweigt, galt die Flucht eines Phàguiéro aus einer verseuchten Stadt als Hochverrat und wurde mit der Todesstrafe für seine gesamte Familie geahndet. Hielt ein Phàguiéro im Falle des Ausbruchs einer Seuche dagegen die Stellung, wurden er und seine Familie bevorzugt behandelt.

Wenn nun eine Handelskarawane oder fremdländische Reisende in eine denalgische Stadt einreisen wollten, mußten sie am Stadttor der Stadtwache ihren Pestbrief vorzeigen. Dabei hatten sie keinen direkten Kontakt zu den Kontrolleuren: Der Brief mußte durch einen neben dem Stadttor angebrachten Schlitz gereicht werden. Auf der anderen Seite nahm der vermummte Phàguiéro den Pestbrief mit einer Eisenzange in Empfang. Der Brief wurde zunächst über einer Flamme erhitzt – wenn er dabei verbrannte, war das das Pech des Händlers, denn er wurde automatisch als pestverdächtig eingestuft. Erst nach dieser Prozedur wurde der Brief gelesen. War die Stadt, aus der der Händler kam, seuchenfrei, durfte er passieren. Wütete dort jedoch eine Seuche, galt der Einreisewillige als pestverdächtig und kam automatisch in Quarantäne. Das Wort „Quarantäne“ stammt von dem denalgischen „quaràn dîeij“, das heißt übersetzt „vierzig Tage“, denn der Pestverdächtige mußte vierzig Tage in einem abgeschotteten Haus außerhalb der Stadtmauern unter Beobachtung eines Priesters einer der drei Gottheiten verbringen, um sicher zu gehen, daß er gesund war. Versuchte der Reisende in dieser Zeit, sich aus dem Beobachtungshaus zu entfernen, galt er automatisch als krank und wurde auf der Stelle erschossen. Der Leichnam wurde dann verbrannt, um weitere Erkrankungen zu vermeiden. Diese Prozeduren waren für Händler zunächst umständlich und bisweilen zeitraubend, und dem einen oder anderen mögen sie auch ein wenig penibel und tyrannisch erschienen sein, doch sie wirkten: Bis Allumeddon wurde Denalgê kein zweites Mal von der Pest heimgesucht.

Die Tradition der Pestbriefe brach zwar im Dunklen Zeitalter zusammen, wurde aber nicht vergessen. In der Tat war die Wiedereinführung der Pestbriefe eine der ersten kaiserlichen Institutionen, die der Kaiser des neu gegründeten Tektoloi einführte: Bereits im Jahre 57 n.P. wurden die ersten „Phàguiérati da Imperôn n'Tektoloi“ („Pestämter des Kaisers von Tektoloi“) nach denalgischem Vorbild eingerichtet. Seitdem wird in jeder Stadt, mit der Tektoloi Handel treibt, ein Phàguiérato errichtet. Auch auf Antrag nichttektolonischer Händler und Städte werden in nichttektolonischen Städten Phàguiérati errichtet, sofern dort noch keines vorhanden ist. Verweigert die Stadt die Errichtung eines Phàguiérato, gilt sie automatisch als seuchenbefallen: Alle aus ihr kommenden Reisenden kommen bei der Einreise nach Tektoloi automatisch in Quarantäne.

Um allerdings den Handel und das Reisen innerhalb Tektolois zu erleichtern, ging man bereits im Jahre 96 n.P. dazu über, die Pestbriefe nur noch an den Grenzorten zu kontrollieren. Heute sind dies Semros, Soleis, Teligos, Travis und alle Hafenstädte. Innerhalb Tektolois wird die Ausbreitung etwaiger Seuchen dadurch verhindert, daß die Phàguiéri sofort mit Hilfe von Illuris eine Warnung in sämtliche anderen tektolonischen Städte senden, sollte die Pest in der Stadt, für die sie verantwortlich sind, ausbrechen. Die seuchenbefallene Stadt wird dann sofort unter Quarantäne gestellt und die Stadttore sämtlicher anderen tektolonischen Städte werden geschlossen. Wie gut dieses System funktioniert, zeigte sich z.B. während des Drei-Brüder-Krieges in Allennos. Als im Jahre 203 n.P. an mehreren Orten des Herzogtums gleichzeitig die Pest ausbrach, wurde kurzerhand das gesamte Herzogtum für pestbefallen erklärt. Innerhalb einer Woche wurden sämtliche Straßen von und nach Allennos von den kaiserlichen Truppen gesperrt. Dadurch blieb der Rest Tektolois von der Seuche verschont.

Erstaunlicherweise blieb die Institution der Pestbriefe auch während des Bürgerkrieges intakt: Die kaiserliche Verwaltung entsandte weiterhin Pestbeamte. Zwar brach der Kontakt zu den meisten nichttektolonischen Städten vollständig ab – die Phàguiéri kehrten entweder nicht zurück oder die Phàguiérati wurden von der kaiserlichen Verwaltung geschlossen, nachdem der Handel völlig zum Erliegen gekommen war –, aber innerhalb Tektolois funktionierte das System stets hervorragend. Wie ernst die Pestwarnungen auch während des Bürgerkrieges genommen wurden, zeigt sich daran, daß im Sommer 395, als Semros unter Pestverdacht stand; in den Wintern 387/388, 388/389, 399/400 und 409/410, in denen Mitrania von der Pest geplagt wurde; sowie in den Jahren 401 bis 404, in denen die Pest in den Umzingelnden Bergen wütete, der Krieg fast völlig zum Erliegen kam, da sich alle Städte abschotteten, die Ritter und Soldaten fürchteten, sich im Feindesland anzustecken, und die einfache Bevölkerung sich weigerte, die Soldaten zu verpflegen, so daß die Fürsten ihre eigenen Dörfern hätten plündern müssen, um den Krieg fortzusetzen.

Auch sämtliche Bemühungen einzelner Fürsten, die Pestbriefe zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen, schlugen fehl: Im Laufe des ersten Jahrzehnts des Bürgerkrieges versuchten mehrere Fürsten Tektolois, die innertektolonische Freihandelszone zu untergraben, indem sie die gesamttektolonischen Pestbriefe für ungültig erklärten und eigene Pestbriefe einführten. Dadurch kam in diesem Jahrzehnt der Handel zwischen einzelnen tektolonischen Fürstentümern immer wieder völlig zum Erliegen, wenn diese gerade verfeindet waren, so daß sie den Phàguiéro des jeweiligen anderen Fürsten nicht einließen, aber auch keine anderen Pestbriefe als die eigenen als gültig akzeptierten. Eine andere Stadt für von der Pest befallen zu erklären, war ebenfalls eine beliebte Kriegstaktik. Da die Allianzen im Bürgerkrieg ständig wechselten, änderten sich überdies auch andauernd die Bedingungen des Handels. Schließlich stieg der Zeitaufwand durch die schiere Zahl der nötigen Behördengänge ständig. Den Höhepunkt fand diese Entwicklung im Jahr 392 n.P., in dem es passieren konnte, daß ein Händler in einer Stadt bis zu fünf verschiedene Phàguiérati aufsuchen mußte. Unter Umständen dauerte es mehrere Wochen, bis man die nötigen Papiere zusammen hatte. Schließlich waren die tektolonischen Händler derart über diese Schikanen verärgert, daß die gesamte tektolonische Händlergilde schließlich einfach die Städte, für die spezielle Pestbriefe vonnöten waren, boykottierte. Die Folge war eine Nahrungsmittelknappheit in fast allen tektolonischen Städten, so daß die Fürsten im Winter 392/393 n.P. aufgaben: Der Pestbrief und auch die Freihandelszone in Tektoloi waren gerettet.

Noch heftiger waren übrigens die Reaktionen auf den einzigen Versuch, die Seuche selbst militärisch zu nutzen: Im Frühjahr 388 n.P. versuchte der Fürst von Mitrania während der Belagerung von Titanas den Widerstand der titanesischen Bevölkerung zu brechen, indem er Pestleichen über die Mauern in die Stadt hinein katapultieren ließ. Empört verließen daraufhin am nächsten Tag sämtliche Priester und sonstigen Heilkundigen Mitrania und die mitranischen Heere. Während die mitranischen Heiler Titanas vor der Ausbreitung der Pest retteten, starben mitranische Soldaten an harmlosen Verletzungen, weil diese unbehandelt blieben. Entsetzt gab der Fürst von Mitrania seine Taktik auf. Kein anderer Fürst wagte einen zweiten Versuch, die Pest gegen ein anderes tektolonisches Fürstentum zu wenden.

Verfaßt im Jahre 418 n.P.

von Abrâr Tardrîos, Meister der Philosophie an der Akademie von Miktonos


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